Emotion Caching


»Nichts bannt mich mehr, als der Schrei eines Menschen.« – Kim

Die junge Kim und ihre drei Freunde spielen ein ungewöhnliches Spiel. Sie sammeln die Gefühle anderer Menschen. Bewaffnet mit der Kamera suchen sie nach dem großen Kick, und wenn der Zufall nicht mitspielt, helfen sie eben ein bisschen nach. Dabei hofft Kim, die Gefühlskälte, die sie seit dem Verlust ihres Vaters plagt, beim Anblick aufgewühlter Menschen vertreiben zu können. Bald merkt sie: Die wirklich überwältigenden Gefühlsausbrüche liefern Angst, Entsetzen und Verzweiflung. Was als harmloses Spiel beginnt, in dem Kim noch die Fäden in der Hand hält, nimmt immer bösere Züge an und entgleitet ihr mehr und mehr.

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Emotion Caching / Roman / ISBN_978-3-95835-062-5 Luzifer-Verlag


Leseprobe

Emotion Caching

So etwas wie Freunde

Das hätte ich dir aber gleich sagen können, dass das gefährlich wird, mein Kind!

Roberts Stimme in ihrem Kopf machte es Kim nicht leichter.

Auch die völlig ungeeigneten Turnschuhe waren nicht gerade das, was sie jetzt brauchte. Sie stand mitten auf einem moosbewachsenen Felsen, und anstatt zu klettern, rutschte sie unablässig ab. Vom Regen der vergangenen Nacht und dem Frühnebel durchnässt, bot sich nicht einmal die Spur eines sicheren Halts. Kalt wehte ihr der eigene nebelhafte Atem von der Wand ins Gesicht zurück, angereichert mit dem modrigen und erdigen Geruch, den sie beim Klettern draußen im Gegensatz zur stickigen Luft in der Halle so mochte. Asseln krochen auf einem grünen Polster vor ihrer Nase herum. Kim bewunderte sie wegen ihrer Fähigkeit, senkrecht an lehmverschmierten Wänden zu laufen, ohne den Halt zu verlieren. Diesen Lehm fühlte sie nun unter ihren Händen, wohin sie auch griff, und es kam ihr vor, als hätte ihr der Himmel persönlich ein Schlammbad entgegengeschüttet, aus Angst, sie könnte ihm zu nahe kommen. Man wollte sie da oben nicht, so viel war sicher, und sie konnte es sogar nachvollziehen – warum sollten die sich in ihrem Himmelreich von einer gefühlskalten Halbwüchsigen stören lassen?

Sie versuchte einen Schritt nach rechts und gab es wieder auf. Wenn sie nur etwas vernünftig zu fassen bekommen könnte! Nein, es war nicht etwa der Himalaja, der ihr gerade das Leben schwer machte, auch wenn sie ihn eines Tages ohne Sauerstoffflasche erklimmen wollte. Es war ein unbedeutend kleiner Felsen im Bergischen Land und sie wusste jetzt, die Idee, sich bei diesem Wetter allein und ohne Sicherung hier hoch zu hangeln, war wirklich total bescheuert gewesen. Sie hatte noch sehr viel zu lernen.

Vorsichtig wagte sie einen Blick die sechs Meter nach unten zum Waldweg. Auch das noch – ein grauhaariges Pärchen mit Rucksäcken und Wanderstöcken machte Halt und gaffte interessiert zu ihr hoch.

»Warum nehmen Sie nicht einfach die Treppe, junge Frau?«

Sehr witzig! Natürlich hätte sie auch die komfortabel in den Wald gehauene Treppe zur Burgruine nehmen können. Und natürlich war dieser Felsen nicht zum Klettern gedacht. Wie eine augenzwinkernde Herausforderung hatte sie Kim angelacht, diese Wand … das perfekte Versteck für ihren Schatz, den sie in ihrer Hosentasche aufbewahrte – eine Plastikdose, kaum 10 mal 15 Zentimeter groß, mit einer Münze und einem Minilogbuch darin – ein ›Geocache‹. Die anderen Schatzsucher sollten ihn anhand von Koordinaten suchen, finden, sich im Logbuch der Dose verewigen und den Cache im Internet bewerten. Nur ein Spiel.

Ganz so einfach wollte Kim es den anderen Schatzsuchern aber nicht machen. Sie wäre nicht Kim gewesen, hätte sie sich nicht ein besonders schwer zu erreichendes Versteck ausgedacht. Doch so schwierig, wie es sich jetzt gestaltete, hatte sie sich das selbst nicht vorgestellt. Der Felsen, den sie für das Verbergen ihres Schatzes ausgesucht hatte, machte heftige Anstalten, Kim auszuspucken.

Ein weiterer Blick nach unten. Das Crashpad – die Matte, die sie am Fuß der Formation zum Schutz vor einem Sturz ausgebreitet hatte – sah nun doch kleiner aus, als es Kim lieb war.

Was soll’s. Sie hatte schließlich schon Schlimmeres gemeistert. Immer Schritt für Schritt, dann würde sie schon irgendwie weiterkommen und wenn nicht – runter kam man schließlich immer.

Mit einem Schuh versuchte sie, die verlockend aussehende Mulde schräg oberhalb ihrer Hüfte zu erreichen, was eine unglaubliche Grätsche erforderte. Wie es nach der Grätsche weitergehen sollte, war ihr zwar ein Rätsel, denn die Kraft aufzubringen, aus dieser Körperhaltung heraus weiter zu klettern, schien ihr nahezu unmöglich. Sie hätte ein Gummimensch sein müssen, um das zu schaffen. Aber seit wann machte sie sich schon Sorgen um ein Danach? Nur ein paar Zentimeter noch … die Zehen spreizten sich unnütz in der Schuhspitze zwischen Leder und Sohle, als könnten sie das Bein auf diese Weise um die fehlende Distanz verlängern. Ihre Oberschenkelsehnen dehnten sich wie die Saiten einer schrillen Geige und Kim war sicher, die geringste Vibration würde sie mit einem dreigestrichenen Cis zerreißen.

Als es ihr endlich gelang, die Fußspitze in der Mulde zu platzieren, erwies sich diese als zu schlüpfrig. Wahrscheinlich war sie mit Moos ausgekleidet – aber noch eher mit einer guten Ladung Pech … von den Racheengeln da oben. Resigniert brachte sie den Fuß in die Ausgangsposition zurück und klammerte sich fester an die winzigen Felsvorsprünge über ihr, an denen sich ihre Hände durch das ständige Nachfassen allmählich aufscheuerten.

Verdammt! Kim keuchte. Jedes ihrer verkrampften Fingerglieder schmerzte. Ein paar Minuten Kraft zu schöpfen, ohne gegen die Schwerkraft ankämpfen zu müssen, das hätte ihr schon viel gebracht. Doch ihr blieb lediglich ein kurzes Verharren mit der Stirn dicht am Felsen. Sie hatte sich verschätzt und es völlig übertrieben – wieder einmal –, als ob sie es mit ihren sechzehn Jahren nicht endlich mal lernen konnte.

Auch die beiden Weißhaarigen sahen von oben betrachtet recht winzig aus. Der Witz mit der Treppe war so alt, wie das Klettern selbst, und ihre Klugscheißerei erinnerte Kim jetzt dummerweise erneut an Robert. Diesen neuen Kerl ihrer Mutter, der meinte, ihr ständig ungefragt Ratschläge fürs Leben geben zu dürfen. Ihr, der ungekrönten Königs-Regisseurin zahlreicher böser kleiner Filmchen. Der sollte nur aufpassen, dass er sich nicht in einem dieser Filme wiederfand. Irgendetwas Lächerliches an ihm würde sich schon finden lassen.

Robert war ein Fremdkörper, der sich seit einem Jahr in ihrem Zuhause ausbreitete wie ein Riesenkrake. Überall hinterließen seine Tentakeln Schleimspuren falscher Nettigkeit, Gerüche und Gedanken, die sie erstickten, sogar bis in diese Wand hinein. Das Schlimmste – er hatte mit seinen blöden Ratschlägen fast immer recht. Kim sah seine nachsichtig grinsende Fresse vor sich, daneben unwillkürlich das Bild ihres verschollenen Vaters, und wünschte, Robert stünde genau jetzt neben ihr im Felsen, damit sie ihn mit einem kleinen Schubs ins Jenseits befördern könnte. Es hätte ihr nichts ausgemacht, sein altes Skelett knacken zu hören … absolut nichts. Schade nur, dass er so gut gepolstert war; ihre Ohren hätten wohl mehr ein Klatschen als ein Knacken vernommen.

»Sie dürfen ruhig weiter schlendern. Dann finden Sie vielleicht sogar einen Sessellift für ihre morschen Knochen«, schrie sie nach unten … und dann ließ ihre Konzentration endgültig nach. Ihre Schuhe rutschten, sie korrigierte. Angst? Nein. Seltsam, auch diesmal verspürte sie nicht die Angst, die angemessen gewesen wäre. Respekt vor der drohenden Absturzgefahr? – das ja. Kim wusste, es half nur noch ein verdammt klarer Kopf.

Warum ziehst du auch ohne richtige Ausrüstung los? Vor allem musste sie Roberts Großmaul aus ihrem Hirn verbannen. Mit diesem Kerl im Kopf würde das mit der Konzentration ganz sicher nichts.

Da sich ein Absprung aus dieser Höhe verbot und wenn ein gefahrloser Abstieg ebenso wenig möglich war, musste sie sich eben durch eine Flucht nach oben retten – wie schon so oft in ihrem Leben. Das konnte ja nicht verkehrt sein. Sie packte links etwas fester zu und ließ ihren rechten Arm für einen Augenblick nach unten hängen, damit das einströmende Blut die Hand wieder etwas geschmeidiger machte.

Kurz bevor die Fingerspitzen der Linken in der lehmbeschmierten Wand endgültig den Halt verloren, nahm sie Schwung und versuchte ihr Glück, indem sie weit nach oben griff … zu weit. Eine Felskante ließ sich zwar greifen, dafür zwang ihr viel zu gestreckter Körper die Fersen nach oben und sie rutschte weg … gnadenlos, unaufhaltsam … bekam auf dem schmerzhaften Weg nach unten nichts zu fassen … schwor sich, das nächste Mal wirklich einen Helm zu tragen … prallte mit dem Hintern auf einem gut bemoosten Felsvorsprung auf … stürzte tiefer, hörte die Wanderer aufschreien, stieß sich die Knie blutig, schürfte sich die Arme auf … und kam auf der luftgepolsterten Matte zum Liegen. Es dauerte eine Weile, bis Kim sich sicher war, noch zu leben. Sie setzte sich stöhnend auf und glaubte, sich mindestens das Rückgrat und alle Rippen gebrochen zu haben. Vorsichtig befühlte sie ihren Kopf. Irgendwo von fern redeten die beiden Alten auf sie ein. Im Rauschen ihrer Sinne hörte sie es kaum, dafür die imaginäre Stimme Roberts: Mädchen – so was unternimmt man doch nicht allein! Und schon gar nicht ohne Helm!

Danke auch, Robert! Ohne deine Visage vor Augen wäre ich nicht mal gestürzt!

Der linke Ellenbogen schmerzte höllisch. Doch je länger sie Haut und Kleidung von Lehm und Grünzeug befreite und sich auf äußere Verletzungen hin untersuchte, desto erstaunter stellte Kim fest, wie wenige Schrammen sie davon getragen hatte. Es war noch mal gut gegangen – wie jedes Mal, wenn sie sich fragen musste, warum sie sich in solch eine Lage gebracht hatte. Einzig ihr linker Ellenbogen machte ihr wirklich Sorgen. Der Unterarm knickte weg – allerdings in eine verkehrte Richtung. Das sah nicht gut aus …