Tentakel des Himmels

Jan Torberg ist ein arroganter einsamer Mistkerl. Nach dem Selbstmord seines Vaters erbt er viel Geld und ein Marketingunternehmen. Doch weder die Firma noch das Geld interessieren ihn. Viel spannender findet er die »Kirche des Lichts«, in der seine Eltern zu seiner Überraschung in den letzten Jahren ihres Lebens Mitglied waren. Als er deren charismatischen Anführer kennenlernt, gerät er immer tiefer in einen gefährlichen Sog aus Vergötterung und Gewalt.

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Tentakel des Himmels / Roman / ISBN 978-3-95835-654-2 Luzifer-Verlag


Leseprobe

Tentakel des Himmels

Prolog

 Im Grunde wusste er um die Aussichtslosigkeit seiner Flucht. Kai war nicht naiv genug, es zu leugnen. Der Gedanke an eine mögliche Rettung schuf eine dünnhäutige Verzweiflungsblase in seinem überlebenshungrigen Hirn – der Instinkt eines Primaten, eines Fluchttieres – das eigene Fleisch war zu retten, um jeden Preis. Trotz dieser Erkenntnis fuhr er weiter in die Dunkelheit hinein. Weil man es nicht wahrhaben will, weil man eben doch hofft, entgegen jeder Vernunft. Dabei hätte er es sich so einfach machen können: Stehenbleiben, aussteigen, auf der Straße die Arme ausbreiten, und sich erschießen lassen … oder was sie sonst mit ihm vorhatten. Dann wäre es schnell vorbei gewesen und er hätte seine Ruhe gehabt – endlose Ruhe. Aber nein, er fuhr immer weiter, mit dem Reisepass in der Innentasche seiner Jacke.

Dabei verdiente er nicht einmal die heißbegehrte Rettung, auch das wusste er. Gäbe es eine übernatürliche Gerechtigkeit, die nur annähernd an menschliche Vorstellungen heranreichte, würde sie ihn niemals so davonkommen lassen. Egal, wie bitter er seine Untaten jetzt bereute.

Ein weiteres Mal huschten Kais Augen auf das Abbild im Rückspiegel über ihm. Die Scheinwerfer eines nachfolgenden Wagens, die ihm eben noch Schweißausbrüche bereitet hatten, als wären sie die bösen Augen eines seelenfressenden Dämons, folgten ihm seit der letzten Kreuzung nicht mehr. Wenig erleichtert atmete er auf. Jetzt also noch nicht. Noch hatte er sein Leben.

Er überlegte, ob er Gott dafür danken müsste. Verächtlich schnaubte er vor sich hin. Gott? Ha! Mit einem Ruck legte er den nächsten Gang ein. Immer, wenn er an Gott dachte, sah er den sehr menschlichen Rücken eines großen, weiß gekleideten Mannes vor sich, der sich von einer Schar aufopferungsvoller Jünger anbeten ließ – diesen scheinheiligen Scheißkerl, von dem er sich hatte einwickeln lassen und für den er gelogen, betrogen und sogar gemordet hatte. Ja, er war ein Mörder – ein hinterhältiger Mörder. Einer, der andere verfolgt und ihnen das Leben genommen hatte. Einer, der jetzt selbst auf der Flucht war, vor noch skrupelloseren und grausameren Mördern, als er es war. Immerhin, in diesem abgründigen Sumpf aus Ausbeutung, Korruption und Gewalt gab es schlimmere Menschen als ihn. Das stimmte ihn versöhnlich, auch wenn ihm ein irdischer Richter das vermutlich nicht angerechnet hätte.

Die Tankanzeige meldete Reserve. Das hieß, er musste unausweichlich die abgelegene Landstraße verlassen, auf der er sich versteckter wähnte; von der er hoffte, dass sie ihn dort nicht suchen würden. So viele Umwege zum Flughafen konnten sie unmöglich einplanen. Im Display blinkte es bereits. Warten half nichts, er musste sich beeilen. Welche Tankstelle hatte um diese Uhrzeit und in dieser öden Gegend überhaupt geöffnet? Für einen Moment überlegte er, ob er den Wagen im angrenzenden Wald stehen lassen und in einer einsamen Pension des nächsten Kaffs unterschlüpfen sollte. Wahrscheinlich würden sie ihn so nah gar nicht vermuten. Von dort aus würde er Lara irgendwann wiedersehen können. Lara, die er zurücklassen musste, im Schoß der falschen Kirche. Die er nicht mitnehmen konnte auf seine Flucht, weil sie ihm niemals geglaubt hätte. Also hatte er ihr alles verschwiegen. Niemand gab ihm das Recht, ihr ideales Weltbild zu zerstören, indem er ihr die Wahrheit angetan hätte, über all die falschen Weisheiten und Versprechungen … und über sich. Ihr junges Leben war ohnehin schon verdorben. Er sollte sie in Ruhe lassen. Mochte sie glauben, was sie wollte. Manchmal war es besser, die Wahrheit nicht zu sagen.

Vor ihm tauchte wieder eine größere Kreuzung auf. Kai verwarf den Gedanken, in einem Dorf zu übernachten, und bog ab in Richtung Bundesstraße.

Er fuhr noch lange durch die Nacht, bis er die nächste Tankstelle ansteuerte – schwitzend, übermüdet und doch aufgekratzt – gerade rechtzeitig, bevor der Balken der Tankanzeige vollends am Anschlag kratzte. Ein paar Minuten blieb er direkt neben der Zapfsäule hinter dem Lenkrad sitzen und spähte aus sämtlichen Fenstern seines Wagens. Dann schüttelte er den Kopf über sich selbst. Jeder Idiot erkannte in ihm einen Flüchtigen. Auffälliger konnte er sich gar nicht benehmen.

Beklommen stieg er aus und sah sich um. Alles schien unauffällig. Eine der Lampen über ihm brummte, aus dem Kassenhaus drang leise Musik, und von irgendwo her erklang der Schrei eines Nachtvogels, was ihm so vorkam, wie das heimliche Signal eines Prärieindianers zum Angriff. Er nahm den Zapfhahn und tankte. In der übrigen Finsternis rund um das beleuchtete Dach der Tankstelle fühlte er sich wie eine fleischgewordene Zielscheibe. Verdammt, so konnten sie ihn problemlos von ein paar Metern Entfernung aus abknallen, ohne, dass er zuvor auch nur einen Schatten von ihnen wahrgenommen hätte. Niemand wusste das besser als er selbst. Unwillkürlich spannte er die Bauchdecke an, in der Erwartung, jederzeit von Kugeln zerrissen zu werden.

Das Benzin kroch quälend langsam durch den Schlauch. Klack! Kai riss den tropfenden Hahn aus der Tanköffnung, presste den Deckel auf das Loch, und lief ins Kassenhaus. Misstrauisch beäugte er den jungen Kassierer, während der auf die Tasten tippte. Sah er nicht aus wie jemand, den er kannte? Hatte er ihn schon einmal in einer der Kirchen des Lichts gesehen? Als er bezahlte, versuchte er, heimlich einen Blick auf den Hals des kräftigen jungen Mannes zu werfen. Was er suchte, war ein Amulett, ein Anhänger mit dem Symbol einer strahlenden Sonne. Zwar trug sein Gegenüber eine silberne Kette, aber was daran hing, versteckte sich wohlbehütet im Ausschnitt des dicken Pullovers. Der Junge hielt ihm das Restgeld hin und lächelte freundlich belanglos, wie es routinierte Verkäufer tun.

»Stimmt so!«, murmelte Kai und er eilte nach draußen, den Autoschlüssel einsatzbereit in der Hand.

Vor der Tür des Kassenhauses sah er sich um, obwohl er ja doch nichts in der Umgebung ausmachen konnte. Dann schritt er zügig auf sein Auto zu. So schnell wie möglich würde er wieder eine dieser verborgenen Landstraßen anfahren, auf denen er sich sicherer glaubte, obwohl es vermutlich nur ein trügerisches Gefühl war. Bevor er die Fahrertür erreichte, bemerkte er etwas vor ihm im Inneren seines Wagens – eine Bewegung, ein Schemen auf dem Beifahrersitz. War es wirklich so oder bildete er sich das bloß ein? Sein Herz führte einen zügellosen Tanz auf. Was nun? Allen Mut zusammennehmen und nachsehen? Oder lieber gleich flüchten? Obwohl er sich kalt fühlte, eisig geradezu, schwitzte seine Stirn heiße Tropfen. Sollten sie ihn tatsächlich jetzt schon aufgespürt haben? Nicht einmal vier Tage nach seiner Androhung, auszusteigen?

Er musste einen klaren Kopf bewahren.

Nachsehen, mach es so kurz wie möglich, keine Kurzschlussreaktion jetzt, beschloss er, auch wenn ihm mehr nach Flüchten zumute war.

Wieder war da dieser unsinnige Schimmer Hoffnung, der inmitten seines Hirnwassers schwappte und der ihn mit dem Glauben an eine Chance überflutete. Vielleicht umspülte er ihn deshalb, weil Kai meinte, dieses eine Mal etwas ethisch Wertvolles zu tun. Diese Verfolgung, das alles hier, hatte er sich selbst eingebrockt. Er hätte sich die ganze Angst ersparen können. Aber nein, er musste ja dem Gottkönig in einem Anfall unfassbarer moralischer Stärke dessen Abscheulichkeit um die Ohren schleudern. Nun musste er da durch. Er selbst hatte an diversen Rückholaktionen Abtrünniger, und somit Verrätern, teilgenommen. Dass manch einer von denen weder zurückkehrte, noch dort ankam, wohin er flüchten wollte, war mehr als einmal seinem eigenen fragwürdigen Verdienst geschuldet gewesen. Warum sollte er annehmen, dass es ihm anders ergehen könnte? Wie konnte er damals nur glauben, alles würde gut gehen, als der Padre ihn einfach so aus seiner Kirche spazieren ließ? Was hatte er sich nur dabei gedacht? Zögernd und mit Rauschen in den Ohren näherte er sich der Wagentür, in dem Wunsch, bloß ein Opfer seiner Angst zu sein. Doch drei Schritte vor dem Fahrzeug starrte ihn aus seinem eigenen Autofenster das Gesicht eines Mannes an, das er kannte, dessen aalglatte, nach hinten gegelten Haare im Licht der Tankstellenbeleuchtung verräterisch glänzten. Die rechte Hand Gottes! Wie gelähmt blieb Kai stehen, den Autoschlüssel in die Handfläche gekrallt. In diesem Moment spürte er eine Luftbewegung im Nacken, die ihm die Haare aufstellte. Kai riss den Kopf herum, sah die Faust des Kassierers auf sich zukommen und bückte sich instinktiv, um auszuweichen. Der Schlag verfehlte ihn. Er kämpfte mit seinem Gleichgewicht, hielt sich gerade noch, sodass er nicht fiel. Mit einem Schrei aus Angst und Schreck warf er sich gegen den Oberkörper seines Widersachers, mehr, um an ihm vorbeizurennen, als ihn umzuwerfen. Sie landeten beide auf dem Boden. Der Brustkorb des Jungen war hart und stieß in Kais Rippen, das Kinn traf ihn schmerzhaft am Jochbein. Kai stöhnte auf, kam auf die Knie und fasste sich ins Gesicht. Im Augenwinkel bekam er mit, wie der Mann aus dem Wagen stieg und langsam auf ihn zuschritt, während der andere sich vor ihm aufrichtete. Kai befahl seinen Beinen, aufzustehen. Taumelnd mühte er sich um Bewusstsein. Dann stieß er die beiden von sich, rannte los, kopflos, ohne nachzudenken. Weg von hier, nach vorn, ins Dunkle, immer weiter, bis in ein Maisfeld hinein, wo er über seine Füße stolperte und sich wieder aufraffte. Ganz so, wie es seine eigenen Opfer getan hatten, denen er gefolgt war. Ob ihm jemand hinterherlief, hörte er nicht. Zu laut pulsierte es in seinem Kopf. Vor ihm sah er nur die Dunkelheit und er spürte das Kratzen der Maisblätter auf seiner Haut, die er blind mit den Armen abzuwehren versuchte. Er rannte, griff orientierungslos in die Finsternis und fasste nach den umknickenden Halmen, als könnten sie ihm helfen.

Auf einmal war all das weg. Seine Beine trugen ihn nicht weiter und die Welt um ihn herum wurde noch schwärzer als zuvor. Sie hielten ihn von hinten fest. Die Flucht endete hier. Es wurde ihm sofort klar. Der Schimmer von Hoffnung in seinem Kopf verglimmte wie auf einem sich krümmenden Docht. Das war das Ende. Auf sein Gesicht legte sich etwas – ein kalter Film, den er mit dem eigenen Atem an Mund und Nase ansog und der auf seinen unbedeckten Augäpfeln kleben blieb. Kai zog nach Luft, wollte das Ding von seinem Kopf lösen, das sie ihm übergezogen hatten, aber sie hielten auch seine Hände fest. Mit aufgerissenem Mund lechzte er nach Sauerstoff, doch er behielt immer nur diese Folie im Mund, statt Luft zu bekommen. Sein Brustkorb schmerzte. Seltsam, jetzt dachte er an Lara – wie sehr er sie liebte und dass er sie vermisste und wie gern er sie in die Arme nehmen würde. Genau jetzt wusste er, warum er all das riskiert hatte: Nicht, weil er ein besserer Mensch geworden war – nein, weil er es nicht mehr ertragen konnte, sie zu belügen. Und nun tauchte sie im Geist vor ihm auf und lächelte ihn an, so nah, als könnte er sie berühren. War das ein Teil seines Lebens, das an ihm vorbeizog, wie es geschehen soll, bevor man stirbt? Aber er sah gar nicht sein gesamtes Leben vor sich, sondern nur Lara, wie sie ihn anlächelte mit ihrem verklärten Blick und jetzt wollte sie ihn küssen … doch dann gewann die Wirklichkeit. In den Ohren knisterte es bei jedem Atemversuch. Es war nicht einmal mehr Platz für ein Geräusch des Röchelns von ihm selbst. Gierig kämpfte seine zusammengefaltete Lunge um jeden Millimeter Ausdehnung. Es fühlte sich an, als wollten die Lungenflügel in ihrer Qual implodieren. Ihm wurde schwindelig … immer mehr … der Schmerz ließ nach, verschwand, und er merkte noch, wie er zu Boden sackte.